DR. MORITZ HOLLMANN

Die Krise der Ästhetik in der Architektur

In Berlin wird zur Zeit zum wiederholten Mal über die Rekonstruktion eines historischen Gebäudes diskutiert. Vis-à-vis zum Berliner Schloss, selbst ein Wiederaufbau, wuchert zur Zeit noch Unkraut über die letzten erhaltenen Grundmauern der Bauakademie. Einzig eine einsam aufragende Fassadenecke gibt einen Eindruck von der klar gegliederten roten Ziegelfassade, die von Karl-Friedrich Schinkel entworfen und 1962 als Teil der DDR-Stadtplanung abgerissen wurde. Bis heute gilt sie als ein Wegbereiter der Moderne. 2016 beschloss der Bundestag einen möglichst an den Vorgaben Schinkels orientierten Wiederaufbau.

Umstrittene Leerstelle: Nach Plänen der Bundesstiftung Bauakademie soll hier ein Vorbild für nachhaltiges Bauen entstehen. Doch um die äußere Gestalt wird nach wie vor gerungen.

Doch insbesondere in Fachkreisen ist eine Rekonstruktion der historischen Fassade umstritten. Gefordert wird ein moderner Bau, dessen Gestaltung die Ideen und Ansätze Schinkels neu interpretiert. Damit wiederholt sich ein inzwischen eingespieltes Muster aus Projektankündigung und Debattenschleife. Denn unter den zahlreichen bedeutenden Vorhaben zur Wiedergewinnung historischer Architektur ist die Bauakademie ein Spätzünder. Die Stadt Dresden eröffnete bereits 2005 nach 11-jähriger Bauzeit ihre Frauenkirche, auch der umliegende Neumarkt wird seitdem mit zahlreichen barocken „Leitbauten“ wieder errichtet. In Frankfurt entstand bis 2018 eine teilrekonstruierte Altstadt, in Berlin eröffnete 2020 das Humboldtforum mit drei Fassaden des alten Stadtschlosses. Vor den Toren der Hauptstadt baut Potsdam bis heute an einer historischen Wiederannäherung mit Stadtschloss, Garnisonskirche und einzelnen historischen Stadthäusern.

Jedem Projekt ging ein erbitterter Streit zwischen Rekonstruktionsbefürwortern und -gegnern voraus. Die Emotionalität der Auseinandersetzung ließe fast die Vermutung aufkommen, hier solle das Bauwesen in seiner Gesamtstruktur aus den Angeln gehoben werden. Tatsächlich ging es stets nur um wenige Gebäude, die gegenüber der gesamten Bautätigkeit in deutschen Städten eigentlich nicht ins Gewicht fallen. Im Kern stand dabei immer die Streitfrage, inwieweit der Wiederaufbau lange zerstörter Bauwerke zeitgemäß und konzeptuell zulässig ist. Insbesondere unter Architekten und Denkmalpflegern ist eine zum Teil vehemente Ablehnung weit verbreitet. 

„Fake“-Häuser und „Rechte Räume“

Die Gründe für diese Ablehnung sind vielfältig. Häufig ist die Forderung zu hören, „gerade an dieser Stelle“ müssten heutige Architekten die Chance haben, eine „zeitgemäße Lösung“ zu finden. Ganz offensichtlich ist die Konkurrenzsituation, die hier anklingt. Immerhin befinden sich viele Rekonstruktionsprojekte an prominenten innerstädtischen Standorten. Die Festlegung auf eine Fassadengestalt reduziert die Möglichkeit des heutigen Architekten, die eigene Schaffenskraft nach außen sichtbar zu machen. Andererseits wird darin die Einstellung deutlich, dass jede Gesellschaft für ihre spezifischen Lebensumstände und Herausforderungen ihren jeweils eigenen architektonischen Ausdruck finden müsse. Was das nun für die äußere Gestalt heißt und wer eigentlich nach welchen Kriterien über die Angemessenheit für die heutige Zeit befindet, bleibt dabei unklar. 

Eine zentrale Ebene der Kritik beschäftigt sich mit der Frage nach der Authentizität. An dieser Stelle lösen sich die Argumente von Erwägungen über Nutzung, Konstruktion und Ausdruck. In den Vordergrund treten Qualitäten, die inhaltlicher, moralischer und philosophischer Natur sind. Das teilweise oder komplette Fehlen von Originalsubstanz führt zu dem Vorwurf, ein rekonstruierte Bau sei „Fake“, also ein Schwindel, der etwas nur vortäuscht ohne es zu sein. Nach dieser Lesart bemisst sich der Wert eines Gebäudes allein nach der Originalität seiner ursprünglichen bauzeitlichen Substanz sowie der durch Veränderungen und Abnutzung manifestierten Geschichte. Diese klare Kategorisierung hat jedoch mit der gebauten Realität wenig zu tun. Unsere Städte sind keine Museen mit ausgegrabenen Artefakten als eingefrorene Zeitkapseln. Sie sind lebendige Organismen, vielschichtig und voller Brüche. Schon immer wurde zerstört und wiederaufgebaut, saniert, renoviert, angebaut und wieder abgerissen. Gebäude imitieren Stile aus anderen Ländern, zitieren oder integrieren Vorgänger oder werden selbst zum Vorbild für unzählige Neuschöpfungen. Jüngst eröffnete die Indiana University ein durch Mies van der Rohe entworfenes Glasgebäude. Der 70 Jahre alte Entwurf war aus Geldmangel nie realisiert worden, hatte also physisch nie existiert. Original oder Fake?

Obwohl Rekonstruktionsprojekte auch in den Medien verhandelt werden, liegt der Schwerpunkt der Debatten eher in interessierten Fachkreisen. Tonangebend sind hier meist – neben Historikern, Denkmalpflegern und Bürgerinitiativen – Architekten und Stadtplaner. In diesen Fach-Blasen und Echokammern findet ein zentraler Umstand erstaunlich wenig Resonanz, der eigentlich aufhorchen lassen müsste: Die Akzeptanz von Rekonstruktionen in der Bevölkerung ist außerordentlich hoch. 80% befürworten nach einer Insa-Umfrage im Auftrag der Bundesstiftung Baukultur den Wiederaufbau historischer Bausubstanz. Unter jungen Menschen ist diese Zustimmung mit 86% sogar noch höher. Bei lokalen Umfragen zu einzelnen Projekten ergibt sich ein ähnliches Bild: Jüngst sprachen sich 67% der Bundesbürger in einer Forsa-Umfrage für einen Wiederaufbau der Berliner Bauakademie aus. Hier zeigt sich ein deutlich unverkrampfteres Verhältnis in der allgemeinen Bevölkerung zum Thema Rekonstruktion. Die gerne mal dogmatisch, mal verkopft daherkommenden Gegenargumente verfangen offensichtlich nicht. Auch die Versuche, den Wunsch nach traditionellen Bauformen und Rekonstruktion ideologisch aufzuladen und in die Ecke der Rechten, Ewiggestrigen und Geschichtsvergessenen zu schieben, erscheint vor diesem Hintergrund etwas zu kurz gesprungen.

Falsche Frage, falsche Antwort

Angesichts des entspannten Verhältnisses zur Rekonstruktion in weiten Teilen der Bevölkerung wirkt der erbitterte Streit um jedes einzelne Projekt erstaunlich verfehlt. Man verkämpft sich an der Neben-Frage, ob wir Gebäude wieder aufbauen dürfen, obwohl man eigentlich längst darüber nachdenken müsste, warum so viele Menschen gerne Gebäude wieder aufbauen wollen. Warum haben sie – trotz aller Einsprüche – ein Bedürfnis nach Bauwerken in historischer Form?

Einer breiten Auseinandersetzung mit dieser zentralen Problematik wird nach wie vor aus dem Weg gegangen. Warum? Weil sie auch ein hohes Maß an Selbstreflexion einer ganzen Branche erfordern würde, die dafür eigentlich nicht bekannt ist. Es ist für alle an Bauvorhaben Beteiligte einfacher, das Phänomen als „anti-modern“ und revisionistisch abzutun, es vielleicht sogar unnötig zu intellektualisieren, als zu einer zentralen Einsicht zu kommen: Das eigentliche Problem sind nicht die Menschen und ihre (falschen) Wertvorstellungen. Das Problem liegt vielmehr bei den Gebäuden selbst. Und damit gewissermaßen auch bei den Verantwortlichen, die diese Werke hervorbringen.

Der „Trend“ der Rekonstruktion kann als Symptom gelesen werden für eine fundamentale Krise heutiger Architektur und Stadtplanung; oder genauer: einer Krise der architektonischen Ästhetik. Vieles, wenn nicht sogar die Mehrzahl dessen, was heute gebaut wird, erfüllt nicht mehr die Bedürfnisse des sinnlich wahrnehmenden Menschen. 

Wenn also suggeriert wird, „modern“ zu bauen hieße automatisch für heutige Bedürfnisse zu bauen, und in alten Stilen zu bauen stünde diesen Bedürfnissen entgegen, dann liegt dieser Annahme ein fundamentaler Denkfehler zugrunde. Denn Gebäude werden, wie der Philosoph Walter Benjamin einst anmerkte, „auf doppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und durch Wahrnehmung“. Was den Gebrauch anbelangt, können heutige Bauten vielleicht besser auf die jetzige Nutzung zugeschnitten, besser isoliert und effizienter sein. Sie haben schnelle Fahrstühle und große Tiefgaragen, und auf den Flachdächern lässt sich wunderbar sonnenbaden. Bezogen auf die Wahrnehmung des Menschen ist die besagte Annahme jedoch kein Automatismus. Und in der gebauten Praxis meistens falsch. Sie negiert die Tatsache, dass ein Mensch zugleich Nutzer und sinnlich empfindendes Wesen ist. Neue Gebäude orientieren sich an allen möglichen Dingen: Kosten, Normen, Belichtung, Feuerschutz, gestalterischen Moden, etc. Aber die Bedürfnisse der sinnlichen Wahrnehmung, also die psychische Wirkung, kommen in der Regel zu kurz. Dabei läge genau hier die Kernaufgabe der Architektur.

Um sich den Zusammenhang zwischen Rekonstruktion und Krise moderner Ästhetik vor Augen zu führen, lohnt ein kurzer Blick auf die zeitgenössischen Alternativen, die für die zum Wiederaufbau vorgesehenen Flächen in Aussicht standen. Für das Gelände der neuen Frankfurter Altstadt gewann in einem Ideenwettbewerb zunächst ein Entwurf, der für die zentrale Lage erstaunlich inspirationslos daherkam. Er unterscheidet sich kaum von dem, was in den letzten 10 Jahren rund um die Großstadtbahnhöfe der Republik entstanden ist: Schlichte, grob geschnittene Häuserblöcke, die trotz der Andeutung historischer Bezüge und einer behaupteten Kleinteiligkeit überdimensioniert und austauschbar wirken. 

Noch eindrücklicher ist ein Ausflug zum Dresdner Zwinger, einem der bedeutendsten Werke des Barocks in Deutschland. Er grenzt mit dem Postplatz an eine Fläche, deren Vorkriegsbebauung heute weitestgehend verschwunden ist. Anders als am nahe gelegenen Neumarkt entschied man sich hier für einen zeitgenössischen Wiederaufbau. Zu sehen sind nun abermals maßstabslose Großblöcke, umwickelt mit schlecht proportionierten Fassadentapeten. Die hier und da hochwertige Materialwahl kann über den Eindruck primitiver Banalität kaum hinwegtäuschen. 

Für Architektur war wohl keine Zeit: Neubau der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft WBM auf der Berliner Fischerinsel

In diesen Gegenüberstellungen offenbart sich eine Schieflage in der architektonischen Debatte, die Aufmerksamkeit und Emotionalität auf eigenartige Weise verteilt. So wird der Beobachter erstaunt feststellen, wie sich die halbe Architektenschaft einer Stadt jahrelang über die Rekonstruktion einer einzelnen Fassade aufregen kann, darüber Kommissionen berufen und Parlamentsbeschlüsse gefasst werden, während an anderer Stelle ganze Stadtviertel in Tristesse und Monotonie versinken. Längst hat die Krise der Gestaltung zentrale innerstädtische Lagen erfasst. Bebauungspläne, Konzeptstudien, Bürgerbeteiligungen, Architekturwettbewerbe – nichts scheint den Niedergang aufzuhalten. Stattdessen wird resigniert, ignoriert oder abgelenkt. Die Marketingprosa ist bei der Schönfärberei äußert erfinderisch. Sie lobt dann lieber den Anteil von Sozialwohnungen in der belanglos-weißen WDVS-Box, die ein kommunales Unternehmen jüngst auf der historischen Berliner Fischerinsel an städtebaulich herausgehobener Stelle errichtete. Oder sie schafft gleich eine Parallelrealität wie bei einem Neubau am Bremer Hauptbahnhof, wo Floskeln wie „Architektur von Welt“ … „Bautradition der Hansestadt“ … „dynamische Form“ … „dezent divergierende Fassaden“ aus einem völlig charakterlosen Fassadenraster ein architektonisches Glanzwerk machen wollen. Bei einem ähnlichen Gebäude in Berlin wird das unterschiedslose Durchrastern gleich zum Dienst an der Demokratie überhöht, da es „Bereiche weder bevorzuge noch benachteilige“. Dabei ist das Ausradieren jeder Individualität – wenn überhaupt – ein zutiefst totalitärer Gedanke. Das Auseinanderklaffen von schönen Worten und gebauter Wirklichkeit ist geradezu grotesk.

Gigantische Verschwendung von Baumaterial

Während also die technischen Standards immer weiter in die Höhe geschraubt werden, stürzt das ästhetische Niveau förmlich ab. Natürlich gibt es Ausnahmen. So gelang David Chipperfield mit dem Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel eine außerordentlich sinnliche Verbindung von Alt und Neu. Die Hamburger Elbphilharmonie beeindruckt durch ihre große Dramaturgie und das neue Münchner Volkstheater von LRO durch Form-und Farbfreude. Hier und da entsteht auch manchmal ein elegantes Hotel oder Wohnhaus, das dann in den Architekturmagazinen der Republik groß und breit besprochen wird. 

Doch wer mit wachen Augen durch die Straßen unserer Städte geht, durch die neuen Büroviertel und Wohnquartiere, also das was unser tägliches Erleben prägt, der wird davon wenig sehen. Hier breitet sich das gebaute Elend aus. Und das ist nicht nur ärgerlich, sondern ein großes Problem. Wir bauen fast nur noch Städte, die keinen eigenen ästhetischen oder kulturellen Wert besitzen. Es gibt also jenseits des Gebrauchs keine Rechtfertigung, sie länger als irgendwie nötig stehen zu lassen. Das Alter tragen sie nicht mit würdiger Patina, sondern als lästige Abnutzungsspuren und Zeichen des Verfalls. Sie werden gedankenlos hochgezogen und nach 30 Jahren ebenso gedankenlos wieder abgerissen. Das ist letztendlich eine gigantische Verschwendung von Baumaterial. Es ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit. Die Empörung unter den Fachleuten, die hier angebracht wäre, bleibt aus. Stattdessen wird am Ende eine Nachhaltigkeits-Plakette mit Platin-Status an die gesichtslose Fassade gepappt.   

Als Grund für diesen Qualitätsverfall wird gerne ein einseitiges Renditedenken privater Investoren angeführt. Da mag etwas dran sein. Doch warum bauen dann ausgerechnet kommunale Wohnungsbaugesellschaften oft die ödesten Wohnblöcke? Und warum werden auch mit sehr viel Geld sehr hässliche Häuser errichtet? Die Ursachen dürften deutlich vielfältiger sein: Trennung von Finanzierung, Bauverantwortung, Eigentum und Gewährleistung; überzogene Normen und Vorschriften; fehlendes Problembewusstsein und eine erschütternde Gleichgültigkeit; destruktives Verhalten von Bauämtern und Lokalpolitikern; und nicht zuletzt das Verharren in gestalterischen Dogmen, die Formen des architektonischen Ausdrucks moralische Kategorien zuweisen.

Die Bedürfnisse der Wahrnehmung werden enttäuscht

Ein Schlüsselwort der Grabenkämpfe ist der Begriff „zeitgemäß“. Der Forderung, zeitgemäß zu bauen, kann eigentlich niemand widersprechen. Die Gestaltung von Gebäuden sollte dem Leben, der Identität und den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden, die heute (und morgen) darin leben und arbeiten. Das Problem ist jedoch, dass in der Masse nicht zeitgemäß gebaut wird. Das meiste, was in unseren Städten entsteht und sich „modern“ nennt, ist aus der Zeit gefallen. Es ist völlig von gestern. 

Die 1970er haben angerufen, sie wollen ihre Architektur zurück: Noch unfertiger Neubau im Berliner Europaviertel

Das was wir heute als architektonische Moderne kennen, entstand nicht zuletzt als Reaktion auf die überbordende Stil- und Formenvielfalt des Historismus, der an jeder noch so kleinen freien Stelle einen Platz für weitere Ornamente fand. Es war ein Abschütteln einer als schwer und oberflächlich empfundenen Kostümierung. Wie leicht, luftig und klar müssen die ersten Schöpfungen der Moderne auf die Zeitgenossen gewirkt haben. Noch heute überzeugen viele Wohnviertel der 1920er und frühen 1930er Jahre durch ihre Klarheit, Farbfreude und Atmosphäre. Insbesondere in der Nachkriegszeit hat sich dieser Stil der Reduktion schließlich durchgesetzt. Er ist jedoch zunehmend zu einem dogmatisch-verengten Funktionalismus degeneriert, der den „realen“ Gebrauch, Konstruktion und Technik als wesentliche relevante Parameter begreift. An der damit einhergehenden Banalisierung des Bauens konnten auch formfreudigere stilistische Entwicklungen – wie z.B. die Postmoderne oder der Dekonstruktivismus – wenig ändern. Das überlieferte Formgefühl und die Sorgfalt im Detail, die den Meistern der frühen Moderne etwa bei ihren Siedlungsbauten noch zu eigen waren, ging zunehmend verloren. Entstanden sind sinnentleerte Fassaden, die dem Betrachter nichts mehr mitzuteilen haben.

Mit der Funktion wird die Hässlichkeit beschönigt. Man behauptet einfach: es funktioniert, infolgedessen besitzt es die neue, heute noch nicht verstandene Schönheit.
Bruno Taut, 1937, S. 134

Anstatt sich über die Jahrzehnte aus der Radikalität in der Abkehr von evolutionär überlieferten Formensprachen zu befreien und auf dem Gewonnenen aufzubauen, schreibt die architektonische Entwicklung diese Denkmuster weitestgehend fort. Dabei wäre geboten, überholte Glaubenssätze zu hinterfragen und Auswege aus der Misere aufzuzeigen. Denn noch immer manifestiert sich diese Ratlosigkeit in einer oft erzwungen wirkende Suche nach dem radikal Neuen und Innovativen, im Wiederaufführen längst gescheiterter Ansätze aus dem 20. Jahrhundert, oder in einem völligen Verzicht auf jeden Gestaltungsanspruch.

Ganz offensichtlich fehlt an entscheidender Stelle das Bewusstsein für die Bedeutung der Ästhetik. Schlimmer noch: Es fehlt das Wissen, was Ästhetik im ursprünglichen Sinne eigentlich ist. Viele Gestalter glauben, dass sie durch ihre Ausbildung ästhetisches Empfinden so verinnerlicht haben, dass sie dieses bei der Formfindung quasi automatisch immer mitdenken. Dabei entgeht ihnen oft, wie sehr ihr Blick geprägt ist durch einseitige Denkschulen, durch spezifische Wertvorstellungen und eingefahrene Glaubenssätze. Sie diskutieren und agieren in einer „Blase“, der oft die kritische Distanz zu ihren eigenen Ansätzen ebenso fehlt wie eine Auseinandersetzung mit der schwindenden gesellschaftlichen Akzeptanz der baulichen Produktion. Da ist dann alles irgendwie „konzeptuell interessant“, „innovativ“ oder „prägnant gelöst“. Bis irgendwann ein Kind ruft: „Der Kaiser ist ja nackt!“. Oder halt: „Das Haus ist ja hässlich!“ Alle Theorien sind nutzlos, wenn der empfindende Mensch sich unwohl fühlt, weil viel wichtigere Bedürfnisse missachtet werden. In diesem Fall eben die elementaren Bedürfnisse der Wahrnehmung.

Ästhetik ist Wahrnehmung

Ein neuer Fokus auf die Wahrnehmung ist essentiell. Über sie beeinflusst die Gestaltung unserer Umgebung, wie wir denken, fühlen und uns bewegen. Je nachdem, ob die Bedürfnisse unserer Wahrnehmung ignoriert oder befriedigt werden, leidet oder profitiert unsere physische und psychische Gesundheit. Grundlage für diesen Zusammenhang sind Zweck und Funktionsweise des menschlichen Wahrnehmungsapparats. 

Evolutionär gesehen resultiert ästhetisches Empfinden zu einem großen Teil aus der Notwendigkeit, dass der Mensch seine Umwelt verstehen muss, um sich in ihr zurechtzufinden. Im Rahmen eines langen Adaptionsprozesses wurde seine Wahrnehmung daraufhin optimiert, sich möglichst schnell Wissen über seine Umgebung anzueignen. Die besondere Fähigkeit der Wahrnehmung besteht darin, in einem gigantischen Reiz-Chaos innerhalb kürzester Zeit verwertbare Informationen zu gewinnen – also Strukturen zu erkennen und dem Wahrgenommenen Sinn zu geben. Zu den Strukturen zählt die Unterscheidung von Vor- und Hintergrund, das Erkennen von Formen, Farben und Mustern, das Identifizieren eines Baumes oder eines Vogels. In der Art und Weise, wie wir Informationen verarbeiten, liegt letztendlich auch die Wurzel eines Schönheitsempfindens, das damit quasi ein „Nebenprodukt“ der Evolution ist. Nicht umsonst steht der Begriff „Ästhetik“ – heute mit der Lehre „vom Schönen“ verbunden – in der wörtlichen Übersetzung ganz einfach für „Wahrnehmung“.

Unser Wahrnehmungsapparat ist eigentlich konstant in Aktion. Immer, wenn wir uns bewegen oder etwas tun, ist er unentbehrlich. Deshalb sind unsere mentalen Strukturen darauf ausgelegt, einen beständigen Strom an Information aufzunehmen und zu verarbeiten, die ihnen durch die Sinne geliefert werden. Und weil die Sinne immer aktiv sind, wollen sie auch stimuliert werden. Sie  haben ein Bedürfnis nach Unterhaltung, und die Befriedigung dieses Bedürfnisses wird als positive Emotion erlebt. Wird es dagegen enttäuscht durch Eintönigkeit und Monotonie, entsteht Langeweile. Wird es – andererseits – überfordert, entsteht Stress. 

Bei der Menge an Information, die wir zu verarbeiten in der Lage sind, spielt deren Organisation eine zentrale Rolle. Je einfacher es uns fällt, Strukturen in den von unseren Sinnen erfassten Reizen zu identifizieren, desto mehr können wir davon aufnehmen. Deshalb bevorzugen wir in unserer Umwelt klare Ordnungsprinzipien, die alles zusammenfügen, alles ordnen, es für das Auge einfach und angenehm machen. Es sind jene Eigenschaften, die wir meinen, wenn wir von Balance und Harmonie sprechen. Sie umfassen Muster, Wiederholungen, Symmetrien, die Verwendung von Rhythmen in den Formbeziehungen ähnlich wie in der Musik. Es ist die Kohärenz, die sich einstellt, wenn viele unterschiedliche Dinge doch zu einem zusammenhängenden Ganzen zusammenfinden, weil sie über genug Gemeinsamkeit verfügen. Kohärenz ist die Ordnung, die dem unvermeidbaren Chaos abgerungen wurde. Erfahrbar wird dies in Städten wie Paris oder Florenz, wo sich einzelne Gebäude dem Gesamtbild nach klaren Regelwerken unterordnen. Beschränkungen bei Material, Struktur und Höhe begrenzten die gestalterische Freiheit auf die Variation im Detail. Daraus resultiert eine Regelmäßigkeit und Erwartbarkeit des Gesehenen, die uns beruhigt und ein Gefühl der Sicherheit vermittelt.

Architektur ist Proportion

Eines der zentralen Ordnungsprinzipien für unser ästhetisches Empfinden ist die Proportion. Folgt man dem im Berlin der 20er Jahre sehr aktiven Architekten Bruno Taut, steht die Proportion gar im Zentrum der architektonischen Tätigkeit: „Architektur ist die Kunst der Proportion“. Erst mit der Proportion entstünde aus Funktion, Konstruktion und Technik ein architektonisches Werk, entstünde tatsächlich Baukunst. Kern der Proportion – aus dem lateinischen „pro portio“, also „Teilung für“ – ist die angemessene Verteilung der Masse. Der Gebäudekörper, Fenster, Tür, Dach – alles steht in einem Verhältnis, und zwar sowohl in sich selbst als auch in Relation zueinander. 

Jeder Mensch hat ein empfindliches Gespür für stimmige Proportion. Diese passive Fähigkeit ist grundsätzlich angelegt, obwohl die Wenigsten in der Lage sind, auf Anhieb eine „gute“ Proportion selbst zu definieren. Maßgeblich sind hier neben den Eigenschaften des Wahrnehmungsapparates unsere Sehgewohnheiten, deren Prägung z.T. weit in die Evolutionsgeschichte zurückreicht. Im Mittelpunkt steht hier die Natur. 

Die Natur ist tief in unseren Empfindungen verankert. Sie wirkt über die Gestalt und Maßverhältnisse des Menschen, die Gesetze der Physik, eine kleinteilige Vielfalt von Farben und Formen. Das Auge kennt das Prinzip der Selbstähnlichkeit, wenn sich Strukturen des Ganzen in seinen Teilen wiederholen, wir also beim Näherkommen immer neue Details entdecken, die dem Gesamtbild entsprechen. Ein Wald gliedert sich in Bäume, diese wiederum in Äste, Zweige und Blätter. Eine Form wird immer weiter aufgegliedert und gebrochen, so dass alles zugleich lebendig und beruhigend wirkt. Unser Auge hat auch ein sinnliches Gespür für Gewicht und Stabilität, von der (scheinbaren oder tatsächlichen) Verteilung von Lasten sowie von der Beschaffenheit von Materialien. Unbewusst merken wir, dass aufgrund optischer Verzerrungen parallel laufende Linien nach oben scheinbar auseinander streben, dass gleich große Fenster immer größer wirken, je weiter oben sie in der Fassade sitzen, dass gerade Linien sich manchmal konvex oder konkav geben. Eine eigentlich horizontale Brücke wirkt mit zunehmender Spannweite ein wenig, als würde sie in der Mitte durchhängen, weshalb sie mit einer leichten Wölbung nach oben für das Auge angenehmer aussieht. Walter Gropius erklärte diese Mechanismen in einem Aufsatz von 1911 anhand eines Beispiels:

Ein breiter Holzbalken, von 2 dünnen Stahlstangen getragen, genügt wohl der rechnerischen Festigkeit. Das ästhetisch empfindende Auge wird aber durch das Mißverhältnis der tragenden und getragenen Glieder beleidigt, denn die stabile Eigenschaft des Materials ist unsichtbar, harmonisches Ebenmaß nur in der sinnlichen Anschauung des optischen Flächenbildes begreiflich.
Walter Gropius

Damit bestimmt eine Dualität aus visueller Komplexität einerseits und klarer Ordnung andererseits unser ästhetisches Erleben von Architektur. Beides erleben wir als angenehm, doch eines funktioniert nicht ohne das Andere. Wir mögen die Spannung, die durch den visuellen Reichtum an Formen, Materialien, Farben, Kontrasten, Details, Strukturbeziehungen oder ein Spiel von Licht und Schatten hervorgerufen wird. Eine Spannung, die entsteht, wenn das Ungezähmte und Rohe des Organischen in Holz, Stein, Kupfer oder Ton mit der gebauten Form und klaren Geometrie eine Verbindung eingeht. Und die zusätzlich gesteigert wird durch eine übergeordnete Schicht aus inhaltlichen Bedeutungen und Assoziationen. Gestaltungselemente und Materialien sind immer zugleich visueller Reiz mit Farbe und Muster, aber auch verbunden mit Empfindungen (warm & kalt, weich & hart) und symbolischen Bezügen (billig & teuer, Status, Vertrautheit, etc.).

Ebenso empfinden wir es als angenehm, wenn diese Vielfalt gruppiert und geordnet wird, wenn es Regelmäßigkeit und Hierarchie gibt und gebaute Masse auf stimmige Art gegliedert, verteilt und geformt wird. Wir mögen es, wenn alle Teile eines Bauwerks in einer gewissen Einfachheit und Logik ihren Platz finden, klar als Fenster, Tür oder ähnliches identifizierbar sind. Wenn Holzbohlen sich im stummen Gleichmaß zu Dielen fügen, aber die Unregelmäßigkeiten und Zufälligkeit der Maserung uns an die Vielgestaltigkeit des Lebens erinnern. Architektur ohne Ordnung ist diffus und irritierend, Architektur ohne Komplexität uninteressant, eintönig und in Ordnung erstarrt. 

(…) Das Chaos muß in jeder Dichtung durch den regelmäßigen Flor der Ordnung schimmern.
Novalis

Interessanterweise tragen die heute als „klassisch“ geltenden Bauformen diesen ästhetischen Prinzipien in besonderer Weise Rechnung. Über Generationen wurden architektonische Elemente intuitiv auf ihre optische Wirkung hin optimiert. Vieles an Proportion, Gliederung und Ornamentik diente dem Ziel, Massen für das Auge zu gliedern, Gewichte zu verteilen und den Eindruck von Harmonie zu erzielen. Deutlich wird dies an einem der ältesten architektonischen Motive: Der Säule. Nach klassischem Verständnis verbietet es die gute Proportion, sie als einfache Röhre mit einheitlichem Durchmesser und beliebiger Länge zu gestalten. Vielmehr sollte sie sich mit einer sanften Wölbung nach oben hin verjüngen. Auf diese Weise werden nicht nur optische und perspektivische Verzerrungen ausgeglichen. Sie folgt damit auch Sehgewohnheiten aus der Natur. Ganz spezifisch bezieht sich hier z.B. der berühmte Renaissance-Architekt Andrea Palladio in seinen I quattro libri dell’architettura auf die Form der Bäume, die ebenfalls nach oben und zu den Ästen hin schmaler sind als an den Wurzeln. Das Resultat ist ein besonders angenehmer – harmonischer – Eindruck. 

Das Auge registriert diese Feinheiten. Und genauso macht sich bemerkbar, wenn es an Feinheiten fehlt. Wenn alles vielmehr von ernüchternder Primitivität ist, weil grobschlächtige Fensterhöhlen zu grobschlächtigen Fassaden zusammengefügt werden, wie bald schon beim anstehenden Neubau des Bundestags an der Straße Unter den Linden in Berlin. Wenn in solchen Fensterhöhlen plumpe Fensterprofile sitzen, oder nur noch tote Glasscheiben. Wenn alles starr und leblos wirkt durch die Reduktion auf rechtwinklige Schemata, vertikale und horizontale Linien, das Stapeln und Aneinanderreihen einfacher Kuben. Wenn Monotonie entsteht durch die beliebige Wiederholung eines einzelnen, in sich schon uninteressanten Motivs von links nach rechts, von unten nach oben, am besten gleich über einen ganzen Häuserblock. Wenn die Fassade nichts von Wert mitteilt außer den Gedanken von Massenproduktion und Ökonomisierung, keinen Eindruck erzeugt über die Verteilung von Gewicht, über tragende und getragene Teile oder über unterschiedliche Funktionen der Räume. Wenn das Farbspektrum von anthrazit bis hellgrau reicht, oder der ebenfalls graue Naturstein alleiniger Vermittler für die Spendierfreude des Bauherrn ist. Wenn das Lebendige nur noch als stille Sehnsucht in ein paar Naturoberflächen Erwähnung findet.

Ich habe hier eine Graukollektion von einer belgischen Firma, da haben Sie 28 Grautöne in jeder Qualität, da werden Sie bestimmt zufrieden sein… Mausgrau, Staubgrau, Aschgrau, Steingrau, Bleigrau, Zementgrau…
Loriot im Film Ödipussi

Wenn also heute oft die Banalität des Bauens beklagt wird oder die sterile Unwirtlichkeit mancher Neubauquartiere, dann haben wir es hier nicht mit einer Frage des Geschmacks zu tun, die der eine so und der andere so empfinden mag. Es geht auch nicht um Mode. Vielmehr ist es Ausdruck der geringen Bedeutung, die den Prinzipien der Wahrnehmung in der Architektur beigemessen wird. Viel zu selten spielen sie in der Gestaltung jene Rolle, die ihnen eigentlich zukommt. Grund dafür ist auch, dass mit der radikalen Abkehr von traditionellen Formensprachen auch ein Erfahrungsschatz der Formfindung verworfen wurde, für den es bis heute keinen angemessenen Ersatz gibt. Abstraktion wurde zu einem validen Gestaltungsmittel erhoben, obwohl sie für sich genommen keinen ästhetischen Wert besitzt. Vielmehr kommt es hier noch mehr auf das an, was übrig bleibt. Je weniger Elemente ich habe, je mehr ich vereinfache, desto mehr Feinarbeit und Sorgfalt ist eigentlich notwendig. Die Einfachheit verlangt mehr Gespür für Proportion, für die Verteilung von Massen, für das Spiel mit Details und das Empfinden subtiler sinnlicher Qualitäten. Denn sonst gehen alle Zwischentöne und jede Lebendigkeit verloren. Es bleibt nur eine mathematische Reinheit, die dem Auge weder Ruhe noch Genuss bietet. 

Natürlich sind sehr gute Architekten in der Lage, auch ohne die in der klassischen Formengrammatik konzentrierte ästhetische Erfahrung schöne zeitgenössische Gebäude zu bauen. Nur die Qualität des Durchschnitts hat sich mittlerweile in Luft aufgelöst. Jene Häuser also, in denen die Mehrzahl der Menschen wohnen und arbeiten sollen, hat verloren. Als Ergebnis sehen wir einerseits ein belangloses Durcheinander, wo Gebäude in autistischer Selbstbezogenheit ihre eigene Interpretation von „Modernität“ und „Innovation“ aufführen.

Andererseits wuchert die bedrückende Uniformität der weiß-grauen Loch- und Rasterfassaden, mehr aufgeblasene Exceltabellen als Architektur. Als Rechteck-Muster sind sie ein Ordnungsprinzip einfachster Art, jedoch ohne Proportion oder visuelle Stimulation. Innerhalb von Sekunden hat das Auge das zugrundeliegende Schema entschlüsselt. Mit ihrer mechanischen Nüchternheit ersticken diese Gebäude jedes sinnliche Erleben im Keim. In beiden Fällen werden die Straßen und Plätze der Städte einem falsch verstandenem Liberalismus und dem individuellen Egoismus von Bauherren und Planern untergeordnet.

Demut und Anspruch

Doch was folgt daraus? Müssen wir uns in einer Zeit des „everything goes“ und der widersprüchlichen Interessen mit den Gegebenheiten abfinden? Das kann angesichts der Notwendigkeit, insbesondere im Baubereich sparsamer mit unseren natürlichen Ressourcen umzugehen, keine sinnvolle Option sein. Es wird nie nachhaltig sein, Gebäude zu bauen, die zwar wenig Energie verbrauchen, die aber jeder empfindende Mensch gerne so schnell wie möglich wieder los wäre. 

Genausowenig kann es überzeugen, ohne Bruch wieder zu den klassischen Bauformen zurückzukehren, als ob es die Moderne nicht gegeben hätte. Nicht nur haben sich die Rahmenbedingungen aus Ökonomie, Nutzung und Bautechniken gewandelt. Das Gefühl für den Umgang mit der klassischen Formengrammatik ist heute auch weitestgehend verloren gegangen. Das lässt sich besonders an den immer wieder anzutreffenden Versuchen historisierender Neubauten beobachten. Sie sind nur in Ausnahmefällen wirklich gelungen. In der Regel leiden sie unter missratenen Proportionen und einer völlig arbiträren Verwendung stereotyper Stilelemente.

Stattdessen ist die Stärkung des Bewusstseins für ästhetische Prinzipien bei allen Beteiligten – Architekten, Investoren, kommunalen Entscheidungsträgern, usw. – von elementarer Bedeutung. Jenseits aller Dogmen muss über den Zusammenhang zwischen den Bedürfnissen der Wahrnehmung und architektonischer Qualität diskutiert werden. Und das bedeutet auch, dass sich alles neu Entstehende messen muss an dem, was bereits da ist und gut funktioniert, genauso wie es das vermeidet, was erwiesenermaßen nicht funktioniert. Denn es gehört zu den großen Widersprüchlichkeiten der heutigen Zeit, dass wir von der Qualität der Plätze in Florenz, Bologna oder Sienna schwärmen, um dann hierzulande jeden Anspruch fahren zu lassen, daran im Neubau auch nur ansatzweise anzuknüpfen. Im Gegenteil: wird doch einmal darauf Bezug genommen, gilt das in der Szene sofort als „Provokation“.

Es kündet von einer erstaunlichen Hybris, das in „alten“ Stilen enthaltene Formgefühl in Ausbildung und Baupraxis pauschal als historisch-überholt zu verwerfen. Viel klüger wäre es, das architektonische Erbe in seiner Gesamtheit, also auch die Errungenschaften der Moderne, als Erfahrungsschatz für die Zukunft zu begreifen – sofern es sich über die Zeit bewährt, also als zeitlos erwiesen hat. Die große Akzeptanz, die architektonischen Klassikern entgegengebracht wird, resultiert schließlich in hohem Maße aus einer Überlegenheit ihrer Ästhetik. Warum also nicht die ästhetischen Ursachen dieser Akzeptanz analysieren und daraus konkrete Erkenntnisse ableiten? 

Inspiration da, wo es Sinn macht, Weiterentwicklung dort, wo es notwendig ist – das erfordert zunächst einmal Demut. Zur „Demut“ gehört die Erkenntnis, dass die Ästhetik der Architektur vielleicht doch zu komplex ist, um in jeder Generation bereits angesammeltes Können undifferenziert abzulehnen. Hier „kommt nicht weit, wer immer wieder ganz von vorne beginnt“ (Franck und Franck 2008, S. 225). „Demut“ heißt, dass „innovativ“ und „anders“ nicht gleichbedeutend mit „besser“ ist. Und dass man zu einer ehrlichen Auseinandersetzung über die weit verbreitete Frustration gegenüber neugebauten Stadträume außerhalb üblicher Echokammern bereit ist. 

Der gewünschte Paradigmenwechsel verlangt aber auch von der Gesellschaft, ästhetische Qualität von den Verantwortlichen einzufordern. Schließlich muss sie mit jeder neuen Bausünde, die den Verfall der Baukultur weiter manifestiert, für viele Jahrzehnte leben. Insbesondere Bauherren und Entwickler, aber auch staatliche Akteure sind gefragt, die Bedenken ernst zu nehmen. Anstatt die Städte mit ihren Bausünden vollzustellen, könnten z.B. kommunale Wohnungsbaugesellschaften hier mit gutem Beispiel vorangehen. Dafür müssten aber die Strukturen und politischen Zielvorgaben, die heute sehr einseitig auf die Massenproduktion ausgerichtet sind, angepasst werden. Ein weiterer Hebel wäre die Nachhaltigkeitszertifizierung, die heute so gerne zu Marketingzwecken eingesetzt wird. Unter den vielen, oft nebensächlichen Kriterien sollte die Bauästhetik eine deutlich zentralere Rolle einnehmen, so dass sich darin ihr maßgeblicher Einflusses auf die Dauerhaftigkeit eines Gebäudes angemessen widerspiegelt. Denn wem nützt ein barrierefreies Niedrigenergiehaus, das nach 20 Jahren wieder abgerissen wird, weil es keiner mehr mag? Auf diese Weise ließe sich vielleicht eine Tür öffnen zu einem heutigen Bauen, das unter funktionellen und ästhetischen Aspekten den Bedürfnissen der Menschen entspricht.

Quo vadis?

Ein Projekt, das einen möglichen Ausweg aus der ästhetischen Misere aufzeigte, war die „WerkbundStadt Berlin“. Unter dem Dach des 1907 gegründeten Deutschen Werkbundes entstand für das Gelände eines ehemaligen Tanklagers in Berlin-Charlottenburg das städtebauliche Konzept für ein dichtes Modellquartier, das sozial, ökologisch und gestalterisch Vorbildcharakter haben sollte. 33 Architekturbüros unterschiedlicher Stilrichtungen lieferten im Selbstauftrag Entwürfe für die individuellen Parzellen. Bereits Jahre zuvor war in Berlin gegenüber vom Auswärtigen Amt ein ähnlicher Ansatz verfolgt worden, als schmale „Townhouse“-Parzellen mit in diesem Fall hochpreisigem Wohn- und Geschäftshäusern bebaut worden waren. Im Falle der WerkbundStadt war das Resultat die Planung für ein extrem vielfältiges Stadtviertel mit hoher architektonischer Qualität. Städtebauliche Dichte, klar definierte Gebäudehöhen und die Verwendung von Backstein als verbindendes Element sorgte für eine Kohärenz der eigentlich sehr heterogenen Formensprachen. Damit zeigte die WerkbundStadt auf, dass auch heute guter Städtebau möglich ist, wenn der Anspruch und Wille vorhanden sind. Das Problem ist jedoch, dass es genau daran meist fehlt. Letztendlich scheiterte die Realisierung der WerkbundStadt an den ökonomischen Interessen der Grundstückseigentümer. 

„Architekturzoo“ am Berliner Friedrichswerder: Einheitliche Höhen und Breiten geben einen Rahmen vor, in der Gestaltung gibt es große Freiheit. In Amsterdam entstand ein ähnliches Projekt.

Eine vielversprechende Perspektive eröffnet auch ein zweiter Blick auf jene innerstädtischen Neubauprojekte von Frankfurt bis Potsdam, die zwar vor allem mit ihrer Handvoll Rekonstruktionen von sich Reden machten. Doch diese historischen Fassaden sind nicht im eigentlichen Sinne interessant. Interessant sind vielmehr jene Gebäude, die eine neue Gestaltung erhielten. Nach aufwändigen Auswahlprozessen ist teilweise gute Architektur entstanden, die sich zugleich zeitgenössisch und kontextbewusst gibt. Das Regelwerk für Materialien, Dachformen oder Farben wurde nicht per se als unzulässige Beschränkung, sondern als Inspiration begriffen. Der Umgang ist dabei durchaus unterschiedlich. Er reicht von eleganter Schlichtheit, die durch gute Proportionen und Materialien das Beliebige vermeidet, bis zum bewussten Spiel und Re-Arrangement regionaler Baustoffe und Stilformen.

Nicht jeder der modernen Füllbauten ist in gleichem Maße gelungen. So ist insbesondere den frühen Projekten des Dresdner Neumarkts die Ratlosigkeit der Gestalter anzusehen. Außer einer Reduktion der Farbpalette auf diverse Grautöne und einer Glättung der Putzfassaden schien ihnen nicht viel einzufallen, die Ergebnisse sind eher trist und austauschbar. Dagegen entstanden in der neuen Frankfurter Altstadt eine Reihe charaktervoller Stadthäuser, die mit Hilfe lokaler Formen und Materialien (u.a. roter Mainsandstein und Schiefer) einen eigenen Ausdruck finden. Nicht jedes ist ein Meisterwerk, aber als Ensemble funktioniert es dennoch.

Lübeck wiederum setzt bei der aktuell laufenden Neubebauung des altstädtischen Gründungsviertels ausschließlich auf eine zeitgenössische Architektur, die lokale Stilelemente neu interpretiert und damit an die überlieferte Stadtstruktur anknüpft. Ein Ansatz, der die ein oder andere interessante Fassade hervorbrachte. Längst erlebt das „regionale Bauen“ auch außerhalb dieser Großprojekte eine Renaissance. Insbesondere in ländlichen Gebieten wird es durch den Rückgriff auf regional verfügbare Materialien und witterungsgerechte Bauformen nicht nur als kontextgerechte Architektur, sondern auch als ein Beitrag zur Nachhaltigkeit verstanden.

Letzten Endes kann es also unterschiedliche Ansätze geben, der Misere der architektonischen Ästhetik zu begegnen. Unsere Wahrnehmung verlangt nicht nach der einen spezifischen Form oder einem bestimmten Stil. Sie erwartet jedoch zu Recht, dass ihre Bedürfnisse von der durch Menschen neu erschaffenen Umgebung ernst genommen und berücksichtigt werden. Wenn dies der Fall ist, wird sie ihr Heil auch nicht mehr in der Vergangenheit suchen müssen. 

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