DR. MORITZ HOLLMANN

Das Humboldt-Forum – eine verpasste Chance

30 Jahre sind seit Beginn der Debatte um den Wiederaufbau des Berliner Schlosses mittlerweile vergangen. Selbst Expertenkommissionen, Bundestagsbeschlüsse und die Realisierung des Großprojektes konnten sie nie vollständig beenden. Unter architekturinteressierten Kreisen lassen sich noch immer emotional aufgeladene Diskussionen darüber führen, ob die Neuerschaffung der Schlüter’schen Barockfassade nun eine gute Idee war oder nicht. Es gibt sogar eine Initiative, den den Abriss des Humbodtforums und den Wiederaufbau des Palates des Republik fordert. 

Bei dieser Fokussierung auf das Für und Wider einer längst getroffenen Entscheidung bleibt jedoch die eigentlich interessante Frage außen vor, ob das von Franko Stella entworfene Humboldtforum insgesamt ein gelungener Neubau ist. Denn obwohl das äußere Erscheinungsbild stark durch die Barockfassade geprägt ist, wurde das Gebäude insgesamt zum größten Teil modern gestaltet.

Für eine solche Betrachtung müsste man den verengten Blick einmal von der Rekonstruktion lösen und diesen hinwenden zu den neugestalteten Bereiche, ihre Verbindung zur barocken Nachschöpfung sowie die Einordnung des Baukörpers in das Stadtgefüge. Auch die Höfe und Innenräume des gern als wichtigsten deutschen Kulturneubau bezeichneten Gebäudes sind es Wert, einer kritischen Betrachtung unterzogen zu werden. Die ästhetische Qualität insbesondere der Schlüter-Fassade selbst ist in der kunsthistorischen Literatur eigentlich unumstritten, nicht umsonst galt sie als eines der bedeutendsten Werke des norddeutschen Barock.

Eine Annäherung von Westen: Das Humboldtforum als städtebauliches Element

Wandert man vom Brandenburger Tor kommend die Linden zur Spreeinsel herunter, bleibt das Humboldtforum nicht lange verborgen. Mächtig überragt die Schlossfassade die umstehenden Gebäude. Doch wie schon Karl Scheffler in seiner 1910 erschienenen Berlin-Biografie treffend feststellte, fehlt der Positionierung des Schlossbaus die Konsequenz. Denn wie so viele große Straßen in Berlin sind auch die Linden nicht explizit auf ein Ziel ausgerichtet, sondern führen durch einen Knick seitlich am Schloss vorbei. So steht auch die dominante Schlosskuppel nicht in der Straßenachse, sondern abgewandt zur rechten Seite.

Beim historischen Schlossbau wurde dieser Umstand noch dadurch abgemildert, dass der Apothekerflügel nach Norden in die Sichtachse ragte und damit dem Blick (wenn auch etwas zufällig) Halt gab. Beim Wiederaufbau wurde auf diesen Baukörper jedoch verzichtet und so die Rolle des Schlosses als optische Zielmarke weiter geschwächt. Es steht recht unmotiviert halb im, halb neben dem Bild. Dem Auge fehlt nun ein klarer Bezugspunkt – es streift an der Fassade entlang und verliert sich in den undefinierten Weiten, die sich hinter Dom und Schloss bis zum Fernsehturm auftun.

Altes Problem, das mit dem Neubau noch verstärkt wurde: Der Schlossbau steht nur am Rand der Blickachse

Auch der Fläche unmittelbar vor der Nordseite des Schlosses zum Lustgarten hin fehlt es ohne den Baukörper des Apothekerflügels an Definiertheit. Der Platzcharakter der Freifläche verliert sich in den vielen Öffnungen zur Umgebung. Besonders deutlich wird dies unmittelbar vor dem Schloss, wo eine Gruppe allzu lichter Lederhülsenbäume am östlichen Teil vergeblich versucht, dem Ort den Anschein einer geschlossenen Anlage zu geben.

Die Fassade: Alt und Neu haben sich nichts zu sagen

Schweift nun der Blick des Stadtbesuchers, der sich für eine Pause auf den Wiesen des Lustgartens niedergelassen hat, die Barockfassade entlang, wird er unweigerlich am östlichen Ende hängen bleiben. Hier trifft die Schlüter’sche Nachschöpfung auf die moderne Ergänzung Franco Stellas. Auf der einen Seite eine klassische Gliederung, die durch Kartuschen, Gesimse, Risalite und andere Elemente die Gebäudemasse optisch aufbricht; auf der anderen Seite eine nackte Betonwand. 

Als ob möglichst preiswert ein Fahrstuhlschacht angebaut worden wäre: Stellas Ostflügel in Plattenbau-Optik trifft auf die rekonstruierte Barockfassade

Optisch getrennt werden beide Teile durch einen Rücksprung, den die in Berliner Neubauten inzwischen wohl unverzichtbaren schmalen „Schießschartenfenster“ zieren. Stella hat hier erkennbar einen Bruch zur historischen Fassade gewählt, dabei aber wohl vergessen, diesen auch zu gestalten. Denn aus der Lustgartenperspektive sieht es aus, als habe man einem Barockschloss einen neuen Fahrstuhlschacht verpasst und dabei den Architekten eingespart. Auf der Südseite wiederholt sich dieser Eindruck. Er wirkt an dieser Stelle sogar noch brutaler, da die hier komplett fensterlose Betonwand gemeinsam mit der Tiefgarageneinfahrt jenen Erker in die Zange nimmt, der die Barockfassade nach Osten mit einer beschwingten Geste abschließt. Deutlich sichtbare Fugen zeigen an, dass dieser Gebäudeteil aus Fertigteilen zusammengesetzt wurde. Anstatt jedoch die Fläche optisch zu gliedern, drängt sich der Gedanke an Ostberliner Plattenbauten auf und verstärkt den Eindruck des lieblos Zusammengezimmerten.  

Beim überqueren der Spreebrücke schließlich offenbart sich der Gedanke der Ostfassade als ein langgestreckter, vor das Barockschloss gestellter Gebäudekörper. Ein gleichmäßiges Raster aus tief in den Laibungen sitzenden Fenstern ist einziges Gestaltungselement dieser zeitgenössischen Ergänzung. Obwohl die Proportionen erkennbar Bezug zur restlichen Gebäudehülle aufweisen, trägt die Architektur doch den „Stempel phantasieloser Kahlheit“ (um abermals Karl Scheffler zu bemühen). Was hier als „italienischer Rationalismus“ daherkommt, ist in seiner Monotonie viel mehr ein Monument der Ideenarmut. Es erinnert eher an ein Hochregallager als an einen der wichtigsten Kulturbauten des Landes. 

Brutalismus trifft Barock: Der Eindruck wuchtiger Kahlheit wird durch die eintönig-rigide Außengestaltung noch verstärkt. Da ist die einsame Trauerweide ein durchaus passendes Motiv.

Vergeblich sucht der Betrachter nach Raffinesse beim Einsatz von Form und Material, nach interessanten Details, nach Rhythmik und Poesie. Kein gestalterischer Kniff mildert die harten Einschnitte der wie ausgestanzt wirkenden Fensterlaibungen, kein Element lockert die Starrheit des Rasters. Die Ostseite des Humboldtforums bestimmt eine brutalistische Kantigkeit, die der Feingliedrigkeit der Barockfassade offenbar mit keiner zeitgenössischen Ergänzung zu antworten vermag. Keine Spur von jener Sensibilität, mit der etwa David Chipperfield die verlorenen Teile des Neuen Museums ergänzte und damit ein reizvolles Nebeneinander unterschiedlicher Architekturstile schuf. Bei Stella bleiben sich beide Teile fremd und kehren sich sprachlos den Rücken zu. In Mitleidenschaft gezogen wird die direkte Nachbarschaft aus Dom und Marstall, die neben so viel Grobschlächtigkeit geradezu leichtfüßig daherkommen (wer hätte gedacht, dass man das einmal über den Berliner Dom sagen würde). Stellas Ergänzung spiegelt damit die gebaute Ratlosigkeit einer Gestaltungskultur, der das Gefühl für architektonische Komplexität, assoziative Vielfalt und kulturelle Identität abhanden gekommen zu sein scheint.

Dieses Problem zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Neubau, wird jedoch im Schlüterhof besonders spürbar. Betritt man diesen vom Lustgarten her, offenbart sich die oberflächlich übertünchte Janusköpfigkeit des Gebäudes. Noch direkter als auf der Außenseite stehen sich hier Rekonstruktion und Neuschöpfung gegenüber. Und abermals findet Stella keine Idee, beide Elemente zu einem stimmigen Raumerlebnis zusammenzubinden. Stattdessen wirkt seine Fassade so, als wäre sie am liebsten gar nicht da. Sie orientiert sich zwar an Farbgebung und Struktur der Barockfassade und gibt damit vor, diese zu ergänzen. Allerdings verzichtet sie auf deren zentrale ästhetische Qualitäten: Ohne Formale Vielfalt, Gliederung, Spannung, Rhythmus oder räumliche Tiefe. Anders als ursprünglich von Stella geplant, wurden nicht einmal Schlüters umlaufende Arkaden als bildprägendes plastisches Element fortgeführt, obwohl dies zu einem verbesserten Raumeindruck beigetragen hätte. Das Ergebnis ist eine geistlos-flache Fassadentapete, die sich aufdringlich in den Raum schiebt. Platt und uninspiriert steht sie da wie einer der gesichtslosen Neubauten aus den Bahnhofsvierteln der Republik. Selbst der unwissende Betrachter wendet sich instinktiv ab, da er den Zusammenprall sinnlicher Vielfalt und nüchterner Gleichgültigkeit als unangenehm empfinden wird.  

Erstaunlicherweise lässt sich manchmal hören, dass diese „zurückhaltende Gestaltung“ das Ziel verfolge, mit der Barockfassade „nicht in Konkurrenz zu treten“, ihr also quasi „das Feld zu überlassen“. Diese Absicht klingt ehrenwert, doch ist sie am Ende ein sinnloses Unterfangen, das offensichtliche Grundprinzipien der Wahrnehmung ignoriert. Denn natürlich kann eine Fassade, die eine ganze Seite des architektonischen Raumes definiert und atmosphärisch prägt, nicht so tun als sei sie nicht da. Sie ist für die Gesamtwirkung genauso verantwortlich wir ihr Gegenüber, da sie vom Betrachter als Teil der Gesamtkonfiguration wahrgenommen wird. Die Folge dieses „nicht da sein Wollens und trotzdem da seins“ ist, dass die durch Schlüters Barockfassade aufgebaute Spannung und Feierlichkeit durch die zeitgenössische Addition regelrecht konterkariert wird. Gerade durch ihre strukturelle Andersartigkeit baut sie ein Konkurrenzverhältnis auf, das sich nicht auflösen lässt.

Geistlos flache Fassadentapete: Rekonstruktion und Moderne im Schlüterhof

Etwas besser gelang da noch die von Stella neu erdachten Nord-Süd-Passage in der Mitte des Gebäudes. Als öffentlicher Verteilort, laut Stella inspiriert von den Uffizien in Florenz, ist sie wahrscheinlich eine der wenigen guten Ideen des Humboldtforums. Die rekonstruierten Innenportale des Eosanderhofs bilden in Ergänzung zur Außenfassade je eine Klammer, die den Barockfassaden etwas von ihrer Kulissenhaftigkeit nehmen. Verbunden werden die Portale durch moderne Fassadenelemente, deren regelmäßiges Raster hier stimmiger wirkt. Die Gliederung durch schlanke Rundsäulen erzeugt die an anderer Stelle vermisste Tiefe und vermittelt so ein Minimum an architektonischer Qualität. Dennoch wäre es schön gewesen, wenn Stella sich bei den Uffizien auch etwas gestalterische Raffinesse und nicht nur die Raumproportion abgeschaut hätte.   

Uffizien auf Berlinerisch: Die Nord-Süd-Passage

Foyer und Innenräume

Von Westen her betritt der Besucher das Humboldtforum durch das kuppelbekrönte Eosanderportal, das in seiner Gestalt dem Konstantinbogen in Rom nachempfunden ist. Er gelangt in eine überdachte Halle, die sich über die gesamte Gebäudehöhe erstreckt und an drei Seiten von einer umlaufenden Galerie umschlossen ist. Rückwärtig erhebt sich die rekonstruierte Innenseite des Eosanderportals, die zugleich in ihrer Breite das Format des Foyers vorgibt.

Der Raum weiß durch seine Größe durchaus zu beeindrucken, wenn man ihn das erste Mal betritt. An drei Seiten sind Galerien angeordnet, die zugleich Verteiler und Aussichtspunkt zu sein scheinen. Gestalterisch dominiert das strenge Raster Franco Stellas, was zunächst einmal den Eindruck einer klaren Struktur erzeugt. Es bestimmt Gestalt und Anordnung von Stützen, Balustraden und Türen bis hin zum Verlegemuster des Bodens. Über allem thront eine allzu grobschlächtig geratene Glasdecke, deren massive Kassetten ebenfalls dem Raster der Galerie folgen. Dieses scheint allerdings nicht nur dominierendes Prinzip, sondern die einzige Gestaltungsidee für diesen Ort zu sein. Das Ergebnis ist eine konsequente Wiederholung des immer gleichen Elements, die weder Vielschichtigkeit, komplexe Wirkungszusammenhänge noch interessante Details bereithält. Der Innenraum wirkt in seiner monumentalen Einfachheit starr und nüchtern, bar jeder Eleganz und Formfreude.

Der Triumphbogen des Eosanderportals steht etwas eingezwängt in einer Nische, die ihm rundum nur ein Minimum an Raum zugesteht. Das Portal definiert in Höhe und Breite das Raumvolumen, ohne dass die Architektur etwas mit ihm anzufangen, es wirklich zu integrieren wüsste. Nach- und Neuschöpfung werden nicht verzahnt, sondern einfach nebeneinander gestellt. Es ist ein Fragment ohne Bezug zum Gesamten, was angesichts der zeitgleichen Entstehung mit Stellas Neuschöpfung den Eindruck des Künstlichen erst befördert. So erinnert es an die antiken Fassadenrelikte des Pergamonmuseums, ohne jedoch tatsächlich historisch zu sein.

In seiner Gesamtheit folgt das ganz in weiß-grau gehaltene Foyer dem schon außen sichtbaren Ansatz eines rigide-sterilen Minimalismus, der eine wirkliche Auseinandersetzung mit den historisierenden Teilen des Gebäudes vermeidet. Zwar reicht das Zusammenspiel aus Größe, Galerien, Glasdecke und Eosanderportal aus, den neu ankommenden Besucher durch seine vorgegaukelte Repräsentativität kurzzeitig zu unterhalten. Doch wird er schon bald feststellen, dass der Raum arm ist an sinnlichen Reizen. Wie viel eleganter wirkt da etwa der neu gestaltete Lichthof des Diözesanmuseums in Freising, in dem die Architekten Brückner & Brückner den klassizistischen Bestand mit einem neuen Glasdach überspannten. Auch hier gibt es umlaufende Galerien über mehrere Geschosse und eine zurückhaltende Farbgebung. Doch unterscheiden sich die Öffnungen zum Hof je nach Etage und sorgen so für eine formale Vielfalt und Dramaturgie. Eine feine Gliederung reduziert die optische Schwere der Wände und setzt sich fort in dem über allem schwebendem, feingliedrigen Dach, dessen Verstrebungen durch ihre geometrischen Formen ein eigenes dekoratives Element bilden. Die Verwendung von Milchglas gibt dem hereinströmenden Licht eine sanfte Gleichmäßigkeit. Alles wirkt leicht, hell und grazil. Ein bisschen mehr dieser Sensibilität hätte auch dem Humboldtforum gut getan.

Man verlässt das Foyer durch drei große Durchgänge an der Stirnseite und gelangt in eine langgezogene Treppenhalle, die alle Ebenen miteinander verbindet und sich mit Fenstern zur Passage öffnet. An dieser Stelle geht dem Gebäude eigentlich der letzte Rest an Gestaltungssinn verloren. Es übernimmt endgültig ein kühler Funktionalismus, der nichts anderes als Verkehrsfläche schaffen will. Weiß, nackt und kahl, mit lieblosen Vierkantstützen, langen Rolltreppen und Rasterdecken; willkürlich verteilte Türen unterschiedlicher Größe, die sich scheinbar aus dem nächsten Baumarkt hierher verirrt haben und manchmal zu einer Ausstellung, manchmal wohl nur in den Putzraum führen; offene Fugen, billig anmutende Materialien, plötzliche Versätze bei den Deckenhöhen und eine Omnipräsenz von Lüftungsgittern. Weite wechselt sich ab mit bedrückender Enge, als ob Nutzung und Architektur um die Vorherrschaft streiten. Es ist mehr Einkaufszentrum als Kulturtempel, wobei in jedem Kaufhaus heute mit mehr Esprit gestaltet wird als hier.

Die Nüchternheit durchzieht letztendlich das gesamte Gebäude und es ist offensichtlich, dass hier den Ausstellungsmachern das Feld überlassen wurde. Überhaupt scheint jede gestalterische Idee, sofern sie denn existierte, den Anforderungen der Museumsleute, dem am Ende doch umfassenden Raumbedarf und wohl auch den Sparzwängen geopfert worden zu sein.

Am Ende bleibt der Eindruck einer verpassten Chance. Enttäuschend ist, dass es nicht gelungen ist, die Vorgabe der Barockfassade als Inspiration zu begreifen, ihr etwas qualitativ ebenbürtiges gegenüberzustellen oder sie zumindest angemessen zu ergänzen. Vielmehr sehen wir triste Innenräume ohne jede architektonische Idee, die sich dem Bezug zum Äußeren verweigern. Stellas rationalistischer Stil will zeitlos sein, er ist jedoch in seiner monumental-brutalen Nüchternheit eher wie aus der Zeit gefallen. Statt Freude an sinnlichem Material und Form atmet das Gebäude den Geist von Betonplatten, Rigipswänden und Glasreiniger. Schade.