DR. MORITZ HOLLMANN

Zaghafte Wiederkehr: Die Rückbesinnung auf den Rundbogen bereichert das moderne Bauen

„Rundbögen sind was für Looser“ – so der etwas trockene Kommentar einer Professorin im Studiengang Architektur an der Hochschule einer deutschen Großstadt. Sie reagierte damit auf den Entwurf einer Studentin, in dem sie Fensteröffnungen nach oben mit sanften Rundungen abgeschlossen hatte.

Doch was ist falsch am Rundbogen? Über Jahrhunderte hinweg war er selbstverständlicher Teil des architektonischen Formenkanons. Die Konstruktionsform ermöglichte es, in Naturstein oder Ziegel auch größere Spannweiten zu überbrücken. In zahlreichen Bauten quer durch die Kulturen, die wir heute teilweise nur noch als Ruinen bewundern, fand er in unterschiedlichen Spielarten Verwendung. So war er nicht nur Kernelement römischer Architektur, sondern taucht in abgewandelter Form u.a. auch in gotischen, maurischen oder persischen Bauwerken auf. Das Kolosseum in Rom, die Kathedrale von Chartres, die Jame-Moschee in Isfahan, der Bab Agnaou in Marrakesh – sie alle nutzen den Bogen als formbildendes Motiv. Auf einzigartige Weise verbindet er konstruktive Logik mit sinnlicher Wirkung. Wenige bauliche Formen sind so einfach und gleichzeitig so assoziationsreich – sei es die Geborgenheit einer Höhle oder das erhabene Blätterdächer einer Allee.

Mit der Weiterentwicklung der Bautechnik fanden sich jedoch zunehmend andere Möglichkeiten, Öffnungen zu überbrücken. Der Bogen war weniger konstruktive Notwendigkeit, sondern wurde zum stilistischen Zitat degradiert. Der Reichtum des ästhetisch-symbolischen Ausdrucks war in einem Zeitgeist, der die Funktion auf das praktische Tun und unmittelbar Objektivierbare reduzierte, ohnehin nicht mehr gefragt. 

Wer den Werkzeugkasten der Baugeschichte heute zu erkennbar als Inspirationsquelle nutzt, gilt in manchen Gestalter-Kreisen als „schon sehr klassisch“ und damit automatisch als irgendwie suspekt, zumindest als uninnovativ und anbiedernd. Und das ist für eine Lehre, die nach wie vor „Innovation“ und „Kontrast“ ungeachtet von Qualität, Kontext und Sinnhaftigkeit als Leitgedanken begreift, ein sträflicher Fehler. Am offensichtlichsten wird dies an Um-, Aus- und Erweiterungsbauten im historischen Kontext. Allzu oft entsteht der Eindruck, dass nicht mit dem Bestehenden weitergedacht wird, sondern das zeitgenössisch Ergänzte geradezu in Opposition zum Altbau geht. Es ist ein in Beton und Glas gegossener Kampf, in dem das Neue versucht, das Alte zu dominieren. Am Ende verlieren beide Teile, weil ihre Summe kein besseres Ganzes ergibt. 

Das andere Extrem des Spektrums, das bisher viel zu bescheidenen Widerspruch erregt, ist die radikale Banalität. Riesig aufgepumpte Excel-Tabellen in Beton und Styropor, mit den immergleichen plumpen Fensterprofilen in anthrazit, den öde verzinkten Balkongeländern, den immergleichen Flachdächern, auf denen sich die überbordende Haustechnik türmt. Der Eindruck der Trostlosigkeit wird verstärkt durch die formale Monotonie: Alles ist Kiste, Rechteck, rechter Winkel – Türen, Fenster, Gebäudekörper, die Stadtgrundrisse der Neubauviertel. Keine Spannung, kein überraschendes Detail, nirgends Halt für das wandernde Auge. Büro- und Wohnviertel haben sich hier zunehmend angeglichen. Wie der Architekturpoet Dieter Wieland einst so schön feststellte: 

„Wände vom laufenden Meter – ohne Anfang, ohne Ende, ohne Mitte, statt Maß nur Mäßigkeit, statt Ordnung Monotonie, geballte Gleichgültigkeit. Wände, vor denen man nicht stehen bleibt, sondern den Schritt beschleunigt, Wände die verdrossen machen.“

Kann nun ein einzelnes Stilelement diesem Elend Abhilfe schaffen? Wohl kaum. Doch vielleicht ist die Tatsache, dass der lange verpönte Rundbogen langsam wieder im gebauten „Mainstream“ ankommt, ein Zeichen für eine Öffnung alter Denkmuster. Es regt sich etwas, wenn auch nur zaghaft. Die formalen Ansätze sind vielfältig und zeigen das breite Spektrum, das allein die zeitgenössische Variation des Rundbogens der architektonischen Gestaltung eröffnet. 

Reduktion und Sinnlichkeit

In manchen Fällen folgen die Gestalter der klassischen Proportion und kombinieren sie mit einem dezidiert zeitgenössischen Ausdruck. Ein gutes Beispiel dafür ist ein Neubau für eine Stiftung in der Berliner Linienstraße. Das in einer Sichtachse gelegene Gebäude vermittelt geschickt zwischen unterschiedlichen Höhen der Nachbarn zu beiden Seiten. In seiner archaischen Schlichtheit ist es erkennbar von heute, erhält jedoch durch seine Klinkerfassade und regelmäßige Rundbogenfenster eine sinnlich-assoziative Qualität. Gleichzeitig schlägt es eine Brücke zum rechts liegenden Altbau, dessen Fassade ebenfalls die Rundbogen-Form als Gestaltungselement nutzt.

Neubau in der Linienstraße, Berlin
Neubau in der Berliner Linienstraße

Wandert der Betrachter wenige hunderte Meter weiter nach Westen, wird er zwei  Bauwerke aus jüngster Zeit entdecken, die dem Haus in der Linienstraße bei Materialität und reduziertem Ansatz nicht unähnlich sind. Zum einen erhebt sich dort direkt an der Spree ein in Brandenburger Klinker gehüllter Würfel, mit dem das Büro Chipperfield ein ehemaliges Krankenhaus aus dem 19. Jahrhundert ergänzte. Etwas fremd lehnt er sich an den geschundenen Altbau, der durch zahlreiche Umbauten und Zerstörungen sein ursprüngliches Erscheinungsbild weitestgehend verloren hat. Seinen eigenen Charakter erhält der Anbau durch asymmetrisch angeordnete Rundfenster, die in ihrer Höhe je nach Etage variieren und durch Lisenen verbunden sind. So funktioniert er als eigenständiger Blickpunkt gegenüber der Museumsinsel.

Das zweite, hier betrachtete Gebäude stammt aus der Feder von Herzog & de Meuron und ist Teil eines Quartiers, das in den letzten Jahren auf dem Gelände des Tacheles entstand. Mit schmal zulaufender Stirnseite blickt es auf die Oranienburger Straße und erhält so ein schlankes Erscheinungsbild. Noch schlichter als bei Chipperfield sitzen hier abgerundete Glasflächen bündig in einer ansonsten schmucklosen Fassade aus gebrochenen Ziegeln. Die Spannung ergibt sich dabei allein aus der Kombination von Form, Oberfläche und Ordnung. An manchen Stellen sitzen statt der Fenster identisch geformte Balkonnischen, die allerdings nicht so recht mit den dahinter zurückgesetzten, rechteckigen Glastüren harmonieren wollen. Insgesamt gehört der Bau jedoch zu den besseren Entwürfen des Entwicklungsprojektes, das in großen Teilen das Einmaleins der Berliner Investorenarchitektur abspult: Man entwerfe ein rechteckiges Fensterelement und drücke dann beliebig oft copy-paste.   

Das archaischen Wesen der drei Berliner Beispiele findet sich auch am Johann Jacobs-Haus in Bremen. Wieder dominieren eine einfache Ziegelfassade und ein schlichter, blockartiger Baukörper. Die Rundbogenfenster des gastronomisch genutzten Erdgeschosses brechen auf, was ansonsten wohl übermäßig starr und etwas uninspiriert gewirkt hätte. Bögen zur Betonung der Sockelzone sind inzwischen nicht mehr ungewöhnlich – zu den bisher noch in Realisierung befindlichen Projekten gehört etwa ein neues Stadtquartier im Kiel, mit dem das dänische Büro Effekt Architects die historische Stadtstruktur mit modernem Holzbau verbinden will. 

Die deutschen Projekte stahlen durch ihre klare Ordnung allesamt eine gewissen Strenge aus. Deutlich spielerischer gibt sich da das Maison Brummell Majorelle in Marrakesh, entworfen durch das neuseeländische Studio Bergendy Cooke. Es entstand als Boutique-Hotel in direkter Nachbarschaft des Jardin Majorelle, einem farbfreudigen Kleinod, das untrennbar mit dem Designer Yves Saint Laurent verbundenen ist. Das Gebäude interpretiert mit zeitgenössischem Twist die traditionellen Elemente der regionalen Architektur. Wie bei so vielen Gebäuden der historischen Altstadt – der Medina – ist der Bau ein schlichter Korpus, der ganz in das typische rot des örtlichen Lehmbodens getaucht ist. Die kubische Form wird durch Einschnitte von Rundbögen und U-förmige Öffnungen aufgebrochen, die mal ein Fenster, mal einen kleinen Balkon aufnehmen. Inspirieren, ohne zu kopieren, lautete das Credo der Architekten bei ihrem Umgang mit lokalen Stilelementen. Der Ansatz setzt sich im Inneren fort und gibt dem Gebäude eine eigenwillige, skulpturale Qualität. Durch die überall spürbare Handwerklichkeit bei Formen und Oberflächen entsteht jedoch nie der Eindruck distanzierter Leblosigkeit, die vielen europäischen Vertretern minimalistischer Architektur zu eigen ist. Vielmehr entwickelt es dank seiner Bezüge zum Ort, an dem es steht, eine starke Identität. Der Gast spürt unmittelbar, dass er in Marrakesh und nicht in Neapel oder Nürnberg seine Zeit verbringt.

Maison Brummell Majorelle in Marrakesh: Zeitgenössische Interpretation lokaler Baukultur

Arkaden und öffentlicher Raum

Geradezu grafisch wirken die Rundbogen-Arkaden, die jüngst die Architekten Donna van Milligen Bielke und Ard de Vries zu einem zentralen Gestaltungselement der Kunstwerf im niederländischen Groningen machten. Der an sich geschlossene Baukörper des Theater-Übungszentrums schafft damit Übergangszonen zwischen Innen- und Außenräumen und wirkt als Verbinder zu den öffentlich zugänglichen Flächen. Zugleich entstehen fast schon intime Hofsituationen, die zum Verweilen einladen sollen. Inwieweit die etwas kühl anmutende Ausführung der Sockelzone in poliertem schwarzem Beton der Atmosphäre zuträglich ist, wird sich wohl noch zeigen müssen.

Etwas gefälliger ist die Materialwahl im neuen Pergolenviertel in Hamburg. Auf 27 Hektar entstand hier ein neues Quartier mit 1.700 Wohneinheiten, dessen Fassaden lokaltypisch in Backstein gehalten sind. Auch hier finden sich Arkaden in Rundbogenform, die sich zu einer Art Platz hin öffnen. Aufgegriffen wird das Motiv durch große, gewölbte Tordurchfahrten, die in die Innenhöfe führen. Offensichtlich bestand hier die Absicht, der ansonsten austauschbaren Architektur etwas Esprit einzuhauchen. Denn ansonsten dominiert das übliche Schema unterschiedlicher Häuserblöcke mit Flachdach, wo die Fassaden – von links nach rechts, von unten nach oben – mit der Reihung immergleicher Fenster und Balkone überzogen werden. Häuser, die unten so zufällig ohne Sockel beginnen, wie sie nach oben zufällig ohne Abschluss enden. Auf diese Weise wirken die als Rundbogen ausgeformten Durchfahrten seltsam unmotiviert und unproportioniert. Sie sehen aus wie nachträglich mit einer Kuchenform hineingestanzt, ohne Bezug zur Gestaltung des Gebäudes, in dem sie sitzen. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass auf eine vernünftige Fassung der Übergänge zwischen Klinkerverkleidung und weiß gehaltenem Innendurchgang verzichtet wurde. Der eigentlich Massivität und Dauerhaftigkeit suggerierende Backstein wirkt auf einmal seltsam tapetenhaft. 

Die Qualität des Dauerhaften 

Wie es in dieser Hinsicht besser geht, zeigt das Projekt The Arches in London. Hier wurde eine Reihe Stadthäuser als eine Abfolge backsteinerner Bögen errichtet, die an antike Aquädukte erinnert. Durch die abgestufte Fassung der Rundungen mit drei Steinreihen erhält die Fassade nicht nur Tiefe, sondern stahlt Solidität und Dauerhaftigkeit aus. Insgesamt gelingt dem Bau das Kunststück, zugleich erkennbar von heute zu sein und doch den Anschein zu erwecken, als sei er immer schon da gewesen.

Sprichwörtlich auf die Spitze trieb das Rundbogen-Thema der Architekt David Adjaye. Für New York entwarf er einen 244 Meter hohen Wolkenkratzer, den er als Reminiszenz an die lokale Industriearchitektur begriff. Steinern, rau und etwas düster adaptierte er das Element in römisch anmutender Proportion in regelmäßiger Reihung für die gesamte Fassade. Zur generisch anmutenden Stahl-Glas-Kulisse der umstehenden Hochhäuser bildet es so einen spanndenden Kontrast – Adjayes Bemerkung, es sei fast wie eine „Ruine in der Stadt“, ist da durchaus zutreffend. Allein die monochrome Optik in anthrazitbraun, erzielt durch die Kombination aus dunkel gefärbtem Beton und Bronze, kommt ein wenig zeitgeistig daher und könnte sich auf Dauer als etwas trist erweisen.

Adjayes New Yorker Bauwerk illustriert – ähnlich wie die zuvor genannten Beispiele – wie weit entfernt manch junges oder etabliertes Büro inzwischen von jenen Dogmen ist, die bis heute an vielen Hochschulen ihr Unwesen treiben. Ein formaler Puritanismus, dem zum Hinausdenken über rechtwinklige Schemata die Bereitschaft fehlt, wird als das begriffen, was er ist: Eine Einschränkung der gestalterischen Freiheit, Bewährtes neu zu adaptieren.

Neue Einfachheit 

Es gibt jedoch nicht nur ästhetische Gründe, die den Rundbogen für Gestalter interessant macht. Im Zuge der vielen experimentellen Ansätze, ressourcenschonender zu bauen, erlebt manche überlieferte Bautechnik ihre Wiederauferstehung. Konstruktionen mit Lehm, Stroh und Fachwerk gelten nicht mehr als Relikt der Vergangenheit, sondern sind plötzlich Hoffnungsträger einer nachhaltigeren Baukultur. Und der Rundbogen ist nicht mehr „irgendwie zu klassisch“, sondern eine Konstruktionsweise, mit der Öffnungen auch ohne die Verwendung von Stahlarmierungen überbrückt werden können.

Im unweit von München gelegenen Bad Aibling bauten Florian Nagler Architekten als Teil des Forschungsprojektes „Einfach Bauen“ der TU München drei Forschungshäuser, die diesen Gedanken in die Realität übertrugen. Die Bauten sind je in Holz, Ziegel und Infraleichtbeton ausgeführt und folgen einem Ansatz der radikalen konstruktiven Vereinfachung. Sie sind damit nicht nur als Statement gegen das von Normen und Vorschriften überfrachtete Bauwesen zu sehen, sondern hinterfragen auch etablierte Herangehensweisen bei der Lösung baulicher Aufgaben. Auffälligstes Merkmal der annähernd gleichen, ganz in grau gehaltenen Gebäude ist die unterschiedliche Ausführung der Fenster: Entsprechend des Materials sind die Stürze des Holzbaus gerade ausgeführt, während für den Ziegelbau ein Segmentbogen und für den Betonbau ein Rundbogen gewählt wurde.

Forschungshäuser in Bad Aibling: Radikal einfache Bauweise als Motivation für die Verwendung eines Rundbogens. Im nächsten Schritt ist die Realisierung eines Studentenwohnheims nach ähnlichen Prinzipien geplant.

Aus Sicht der Architekten ergab sich dieser Ansatz geradezu zwingend aus dem Ziel, monolithisch und materialsparend zu bauen. Auf Sonderbauteilen mit Materialmischungen, wie z.B. gedämmte Fensterstürze, konnte verzichtet werden.

Das Resultat dieser Philosophie ist eine Gestaltung, die ihre Ästhetik aus einer sinnenhaften Interpretation der Bauaufgabe ableitet und trotz der bewusst spröde-reduzierten Optik einen besonderen Charme versprüht. Zugleich ist sie realer Beweis gegen das kaum noch widersprochene Argument, aufgrund hoher Baukosten und Nachhaltigkeitsanforderungen sei gute Architektur „leider“ oft nicht mehr drin, die landauf, landab aus dem Boden schießenden, grau-weißen Würfel-Alpträume also alternativlos.

Ganz im Gegenteil lassen sich auch unter heutigen Bedingungen schöne Gebäude bauen, wenn die Bereitschaft besteht, eingefahrene Denkmuster zu hinterfragen.

Es wäre ein Gewinn, wenn sich auch die Entwickler der Neubaugebiete dieser Welt für diese Qualitäten öffnen würden. Wenn wir mehr darauf schauen, was den Betrachter inspiriert und sein Auge erfreut, erhalten wir auch wieder eine menschenfreundliche Architektur.

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